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Bildungsaktivistin Margret Rasfeld: Mindestens die Revolution

29. September 2021
Thema:Kinderrechte
Von:Katharina Höftmann Ciobotaru
Gemeinsam mit Verbündeten wie dem Reformpädagogen und Psychologen Otto Herz sowie dem Berliner Unternehmer und Buchautor Waldemar Zeiler („Unfuck The Economy“) will die Bildungsaktivistin Margret Rasfeld noch in diesem Jahr eine Revolution starten. Die Gruppe hält das aktuelle System dabei nicht nur für ungerecht, sondern auch für ungeeignet, junge Menschen auf die Herausforderungen und Probleme der Zukunft vorzubereiten. Über Volksbegehren mit zum Teil radikalen Forderungen, wie der Abschaffung der Schulnoten, soll in mehreren Bundesländern Druck ausgeübt und alle Beteiligten motiviert werden, über das gesamte deutsche Bildungssystem noch einmal völlig neu nachzudenken...

Margret Rasfeld ist Lehrerin durch und durch. Sie erklärt Dinge mit Geduld, wenn auch manchmal ein leichtes Unverständnis durchschimmert. Unverständnis, wie man nach all den Jahren der Kritik am Bildungssystem als Interviewerin immer noch Fragen stellen kann wie, „Aber wenn es keine Schulnoten mehr gibt, wie kann man dann die Leistung der Kinder vergleichen?“ Rasfeld beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit dem Thema Schulbildung. Als Direktorin, u.a. der Evangelische Schule Berlin Zentrum, als Autorin von Büchern wie „Schulen im Aufbruch“ und „Eduaction“ und als Gründerin der Initiative „Schule im Aufbruch“ hält sie Deutschlands Bildungssystem vor allem für eins: ungerecht.

Gemeinsam mit Verbündeten wie dem Reformpädagogen und Psychologen Otto Herz sowie dem Berliner Unternehmer und Buchautor Waldemar Zeiler („Unfuck The Economy“) will Rasfeld noch in diesem Jahr eine kleine Bildungsrevolution starten. Die Gruppe hält das aktuelle System dabei nicht nur für ungerecht, sondern auch für ungeeignet, junge Menschen auf die Herausforderungen und Probleme der Zukunft vorzubereiten. Über Volksbegehren mit zum Teil radikalen Forderungen, wie der Abschaffung der Schulnoten, soll in mehreren Bundesländern Druck ausgeübt und alle Beteiligten motiviert werden, über das gesamte deutsche Bildungssystem noch einmal völlig neu nachzudenken.

Wir haben Margret Rasfeld auf ein paar dringende Fragen zum Thema getroffen:

Fairplanet: Sie haben mal gesagt „Wir brauchen mutige und kreative Weltbürger mit Gemeinsinn, die es gewohnt sind, lösungsorientiert zu denken und Verantwortung zu übernehmen; für sich selbst; für ihre Mitmenschen; für unseren Planeten.“ Warum schafft das traditionelle Schulsystem das nicht?

Margret Rasfeld: In Deutschland sind wir auf Selektion ausgerichtet. Das heißt, das Schulsystem sagt nicht, in jedem Kind sind ungeheure Potentiale und unsere Aufgabe ist es, jedem in seiner Zeit zu helfen, diese Potentiale auszuschöpfen und zu erkennen, wer bin ich eigentlich und welche Fähigkeiten habe ich eigentlich. Auch die Freude am Lernen zu erhalten ist nicht das Ziel des derzeitigen Schulsystems. Nein, erst einmal wirst du nach vier oder sechs Jahren in Gewinner oder Verlierer eingeteilt, denn wer nicht aufs Gymnasium kommt, hat verloren.

FP: Deutschland hat eigentlich im Vergleich zu anderen Ländern eine tolle Berufsausbildung, warum zählt das nichts?

MR: Weil Berufe in Deutschland nicht viel zählen. Vor allem Handwerksberufe, da gehen die Hauptschüler hin. Die Realschüler sind dann für höhere Berufe geeignet – aber das wird einfach nicht gleichwertig angesehen. Die Eltern wollen ihre Kinder auf dem Gymnasium haben. Schicken ihre Kinder zur Nachhilfe und dann zählen nur die Noten. Alles wird auf die Ablieferung der Bestnoten ausgerichtet und alles passiert im Gleichschritt. Diese Ausrichtung der Kinder auf Noten ist schlimm, in Dänemark und Schweden kriegen die Kinder bis zur achten Klasse nicht einmal Noten. Aber in Deutschland lernen die Kinder nicht, weil es Freude macht oder aus Neugier, sondern sie arbeiten ein Stoffpensum ab und kriegen dafür eine Bewertung durch eine Ziffernote. Und wir haben inzwischen Kinder im Burnout.

FP: Ist das in anderen Ländern anders?

MR: Ja, und die OECD hält uns das übrigens auch vor: Wir sind das Land, in dem Bildung am meisten von der sozialen Herkunft abhängt. Und das in einem der reichsten Länder der Welt. Die Schere wird in unserem Bildungssystem nicht kleiner gemacht, sondern vergrößert. Das setzt sich dann im Studium fort, der Großteil der Studierenden hat wenigstens ein Elternteil mit akademischen Bildungshintergrund. Dieses selektive Schulsystem führt dazu, dass die Heterogenität sehr früh verloren geht.

FP: Wie kann aktiv gegen diese Ungerechtigkeit vorgegangen werden?

MR: Wir haben in Berlin einen Pilotversuch gemacht, Gemeinschaftsschule, da war auch meine Schule dabei. Und die Aufgabe war, alle Kinder zu nehmen und sie nicht nach Leistung zu trennen. Denn selbst in den Gesamtschulen werden die Kinder oft nach Leistung getrennt. Diese Schulen wurden dann mit anderen Schulen verglichen und haben dabei sehr gut abgeschnitten.

FP: Woran wurde das gemessen?

MR: Nun, einmal über Persönlichkeitsmerkmale. Aber auch über den Lernerfolg, also Lernzuwachs in Deutsch, Englisch, Mathe und Naturwissenschaften. Aber bei uns geht es ganz klar ums Kind und nicht nur darum, wie es den Stoff abgearbeitet hat. Die Kinder arbeiten mit ihren Materialien selbstständig in Lernbüros, sie sollen lernen, lösungsorientiert zu denken. Und sie sollen verstehen, der Erwachsene, der Lehrende, ist mein Freund, nicht mein Feind. Jedes Kind hatte alle zwei Wochen Einzelcoaching. Jeder Klassenlehrer wurde jeweils einem Teil der Klasse als Mentor zugeordnet und hatte zwei bezahlte Stunden Zeit, um bei den Schülern nachzuhaken, wie es ihnen geht. Ob sie gut vorankommen, irgendwo Unterstützung brauchen etc. Die pädagogische Botschaft heißt hier: Hilf mir, es selbst zu tun.

FP: Bei älteren Kindern kann ich mir vorstellen, dass das sehr gut funktioniert. Aber was ist mit den jüngeren Schülern?

MR: In der Grundschule brauchen wir Jahrgangs-gemischte Klassen, das entlastet auch die Lehrer. Die Kleinen gucken sich total viel von den Großen ab. Und wenn man Kindern lesen beibringen will, kann man das zum Beispiel über ein Theaterstück tun – die Kinder lernen sehr viel schneller lesen, wenn sie ein konkretes Ziel haben. Aber nichtsdestotrotz müssen wir verstehen, dass man in so einer Klasse oft Entwicklungsunterschiede von zwei bis drei Jahre hat. In Kanada beispielsweise müssen alle Kinder am Ende der Grundschulzeit in der Muttersprache und Mathematik auf Kompetenzstufe drei sein, dafür haben die dann aber vier Jahre Zeit. Bei uns ist es so: Die Kinder kommen in die Grundschule, die einen haben schon im Kindergarten gelesen, die anderen hatten noch nie ein Buch in der Hand. Dann kommt der erste Test und daraus wird dann geschlossen, es gibt Kinder, die mit einem Hauptschul-Gen geboren sind.

FP: Nun können die Kinder ja nicht den ganzen Tag alleine in Lernbüros arbeiten...

MR: Nein. Wir haben zusätzlich an einem Tag in der Woche Projekttag, dieser dauert fünf Stunden und ist zum Teil doppelt besetzt. Da suchen sich die Kids zu einem Oberthema Forscherfragen aus und haben dann sechs Wochen Zeit, daran zu arbeiten. Rauszugehen, etwas zu bauen, eine Ausstellung zu machen. Dann haben wir Werkstätten, so ähnlich wie AGs, wir sind ja eine Ganztagsschule also finden diese an unterschiedlichen Tageszeiten statt. Diese Werkstätten gehen von Kochen über Programmieren bis zu Meditation. Wir schreiben Verantwortung groß, wenn sich unsere älteren Schüler zum Beispiel in einer Grundschule, die in einem Brennpunkt-Viertel liegt, engagieren wollen, unterstützen wir das. Für diese Verantwortung, die sich auf andere Menschen, sich selbst und den Planeten erstreckt, gibt es ein verpflichtendes Lernformat: Jeder übernimmt eine soziale oder ökologische Aufgabe im Gemeinwesen. Das kann sein, sich um Kinder, ältere oder Flüchtlinge zu kümmern oder Urban Gardening zu machen – da sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Wir wollen echte Diversity und Lernen im Leben, nicht mit Arbeitsblättern. Und bis zur neunten Klasse gibt es keine Noten.

FP: Ist das dann ein Schock, wenn plötzlich die Benotung kommt?

MR: Naja, das vielleicht nicht, die sind dann schon ziemlich gut aufgestellt. Die kriegen trotzdem ihre Zertifikate mit persönlichem Feedback und unten steht ganz klein eine Note. Aber ganz klar: Komplett ohne Noten wäre besser. Dann würden die Eltern auch nicht auf die Idee kommen, für gute Noten Geld zu geben oder für schlechte Fernsehverbot. Wir nutzen auch nicht die gängigen Arbeitshefte, wir haben wirklich versucht, das Vergleichsprinzip soweit es geht rauszunehmen. Die müssen trotzdem vier Bausteine in jedem Fach abschließen und ein Jahrespensum schaffen, aber das ist absolut machbar. Und dazu kommen dann die Werkstätten und die Verantwortung. Unsere Kinder gehen wirklich gerne in die Schule. Selbst diejenigen, die so einen Stempel „erziehungsschwierig“ haben, entwickeln sich bei uns gut, weil sie nicht bestraft werden und Erfolgserlebnisse haben können, wenn auch nicht immer im kognitiven Bereich.

FP: In Deutschland gibt es für die meisten Studienrichtung einen Numerus Clausus, das ganze System beruht auf dieser Vergleichbarkeit. Am Ende haben die Schüler auch bei Ihnen Noten und die entscheiden, wer studieren darf und wer nicht.

MR: Leider unterliegt die Oberstufe viel stärkeren Gesetzen und das wird über die Kultusministerkonferenz geregelt. Und unsere Vorschläge für eine alternative Oberstufe haben es nie in den Senat geschafft. Wir konnten nur einige Elemente übernehmen. Aber die Tests müssen sie trotzdem schreiben, das ist blöd. Trotzdem: Wir haben an unserer Schule etwa 40 Prozent Schüler, die gar nicht mit Gymnasialempfehlung gekommen sind und wir haben einen Abi-Durchschnitt von 1,8, 1,9. Wir dürfen einfach nicht den Fehler machen, zu sagen, weil es den NC gibt, müssen schon Grundschüler ausgesiebt werden. Am Ende müssen sich auch die Hochschulen verändern.

FP: Diese Veränderungen durchzusetzen ist unglaublich schwierig, wie sehen Sie die Entwicklung in den Schulen?

MR: Wir haben 2017 den nationalen Aktionsplan Bildung für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Der ist leider insgesamt noch recht unbekannt, da die Medien kaum darüber berichteten. Ich halte fast täglich Vorträge darüber. Wir vonSchule im Aufbruch haben gemeinsam mit dem Kultusministerium und dem Lehrerfortbildungsinstitut in Niedersachsen bereits 140 Schulen für einen gesamtinstitutionellen Ansatz und einen Modellversuch für neue Bildung begeistert. Zu dem Aktionsplan gehört aber auch meine Idee „Freiday“: Das ist ein Tag in der Woche, mindestens vier Stunden, an dem kein Curriculum herrscht, sondern wo die Kinder und Jugendliche sich entlang von Zukunftsfragen einbringen können. An diesem Tag eignen sich jahrgangsübergreifende Gruppen zu Themen wie Biodiversität, Plastikverschmutzung oder Ernährung Wissen an und erarbeiten Lösungsideen für konkretes Handeln vor Ort. Innerhalb von einem Jahr haben wir dafür schon 80 Schulen begeistern können. Es bringt nichts, wenn die Kinder nur thematisch Sachen behandeln, sie müssen sich ausprobieren, erfinden können. Sie müssen sich in Politik und Wirtschaft einmischen dürfen. Dafür brauchen sie Aktions- und Freiräume.

FP: Wie sollen die LehrerInnen all den Schulstoff schaffen, der von oben vorgegeben wird, wenn Sie Ihnen noch einen Tag wegnehmen?

MR: Ich sage es mal so, 90 Prozent der Schulen in Deutschland erfüllen nicht das Schulgesetz. Weil da steht drin, dass die Kinder ökologische Zusammenhänge verstehen und sich einsetzen und mündige Bürger werden sollen. In allen Curricula wird auch fächerübergreifendes Arbeiten, Förderung der future skills und so weiter gefordert: Das passiert aber nicht. Im Freiday wird genau das gefördert. Für die Lehrenden ist das natürlich nicht einfach, denn dieser Tag ist nicht planbar: Manche Schüler wollen ihre Schule klimaneutral machen, andere wollen über Wildbienen aufklären. Das sind Projekte von völlig unterschiedlichem Umfang. Die Lehrer müssen hier loslassen und in die Begleitungsrolle gehen. Der Freiday ist die Brücke vom alten System ins Neue.

FP: Was müssen Lehrer leisten, um Kindern gerecht zu werden? Wie kann man bei über 25 Kindern jedes Kind als Individuum sehen?

MR: Es geht. Bei uns in der Schule geht es. Wir haben sogar Kinder mit besonderem Förderbedarf.

In Finnland, Dänemark und Schweden zum Beispiel arbeiten die Lehrer in multiprofessionellen Teams. Dazu gehören dann nicht nur Lehrer, sondern Sozialpädagogen, Ergotherapeuten und so weiter. Da sind wir in Deutschland weit von entfernt. Dabei wäre das eine fantastische Idee, um auch den Lehrermangel zu beseitigen. Warum sollten nicht auch Handwerker, Künstler und so weiter mit den Kindern in Projekten arbeiten?

FP: Frau Rasfeld, vielen Dank für das Gespräch.

Artikel geschrieben von:
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Katharina Höftmann Ciobotaru
Autor:in
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