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Erdbeben in Syrien und der Türkei: Misswirtschaft, Benachteiligung und Rassismus

12. Februar 2023
Thema:Naturkatastrophen
Von:Raze Baziani
Seit fast 1000 Jahren hat es in der türkisch-syrischen Grenzregion nicht so stark gebebt wie am 06. Februar 2023. Die Zahl der Todesopfer ist zum jetzigen Zeitpunkt auf mindestens 35.000 angestiegen, tausende Menschen werden noch vermisst. Es wird erwartet, dass die Zahlen rapide steigen werden. Die Katastrophe wird durch Schnee, Kälte, mangelnde Ressourcen und nicht zuletzt politische Gewalt verschärft.

Die Katastrophe überraschte die Menschen in den frühen Morgenstunden, als sie noch in ihren Häusern schliefen. Etliche Nachbeben folgten. In Minuten wurden ganze Städte zerstört. Viele mangelhaft konstruierte Gebäude hielten den starken Erdbeben nicht stand. 

Die Hilfskräfte stehen unter maximaler Überbelastung.

Nach einem Erdbeben sind laut Mediziner:innen die ersten 72 Stunden für verschüttete Menschen entscheidend. Ein kleiner Junge konnte sogar noch achtzig Stunden später nach dem Beben lebend geborgen werden. Doch dies ist nur ein seltener Hoffnungsschimmer. Denn mittlerweile ist das Wimmern der Menschen und Tiere, das unter den Trümmern in den ersten Tagen noch zu hören war, fast gänzlich verstummt. Es gibt viele Vorwürfe an die türkische Regierung. Die betroffenen Regionen wurden schließlich teilweise seit Jahrzehnten systematisch in ihrer städtebaulichen Entwicklung vernachlässigt. Präventivmaßnahmen wurden unterlassen, trotz Warnungen und Empfehlungen von Wissenschaftler:innen. Ein Teil der in der Türkei zu zahlenden Erdbebensteuer soll veruntreut und an regierungsnahe Unternehmen gezahlt worden sein. Mit den Geldern aus der Steuer hätten eigentlich unter anderem erdbebensichere Gebäude entstehen sollen. Auf die derzeitige Katastrophe hätte sich wohl niemand richtig vorbereiten können, das Ausmaß der Katastrophe hätte aber unter Umständen ein weniger verheerendes sein können. 

Institutionelles Versagen

Denn Misswirtschaft, institutionelle Benachteiligung und struktureller Rassismus sind menschengemacht. Betroffene vor Ort berichten, dass bisher in den kurdisch bewohnten Gebieten, dem Epizentrum der Erdbeben, kaum staatliche Hilfe ankommt. Zwischen tonnenschwerem Schutt und Asche versucht die Bevölkerung selbst mit bloßen Händen Menschen zu retten, bei Temperaturen nahe der Null Grad Marke. Benachteiligte Gruppen sind so auch bei Naturkatastrophen durch menschlich geschaffene Ungleichheiten unterschiedlichen Herausforderungen ausgesetzt. Politisierter könnte eine Region kaum sein, als die in der sich die aktuellen Erdbeben ereigneten. Viele der betroffenen Gebiete werden von Kurd:innen bewohnt. Darunter sind tausende die vor den Militärangriffen der Türkei aus ihrer Heimat in Syrien geflohen sind. Ihre Lage war schon vor dem Erdbeben prekär. Sie lebten in Zelten und in der stetigen Angst vor weiterer politischer Gewalt. Nun haben sie nicht einmal mehr ihr provisorisches Obdach. 

Und so werden gesellschaftliche Schieflagen in Notsituationen deutlicher denn je. Es gilt sie zu benennen, um die Verantwortung von Entscheidungsträger:innen nicht weiter zu verschleiern. Fraglich bleibt, wann der passende Zeitpunkt dafür ist. Nicht jetzt, wo es einzig und allein um das Retten von Leben gehen muss? Oder vielleicht gerade jetzt, weil manche Betroffenen überhaupt keine Hilfe erreicht. Und vielleicht gerade dann, wenn die zunehmend autoritäre Regierung der Türkei inmitten einer Naturkatastrophe entscheidet, den Zugang zu Social Media zeitweise studentenlang zu drosseln in dem Wissen, dass überlebenswichtige Hinweise gerade eben über diese Kanäle verbreitet werden. 

Hilflosigkeit im Niemandsland

Sprechen müssen wir auch über Menschen, an deren Leid wir uns fast schon gewöhnt haben.
Auch Syrien ist stark von der Erdbebenkatastrophe betroffen, mehr als 3.300 Tote hat sie gefordert. Doch staatliche Hilfe erhalten hier nur die Regionen, die von Bashar al-Assads Regierung kontrolliert werden. Der Rest des Landes ist auf sich alleine gestellt, viele Regionen werden von Rebellen kontrolliert - zum Leidwesen der Zivilbevölkerung. Für internationale Unterstützung ist nur eine Route über den Grenzübergang Bab al-Hawa offen und dieser wurde durch das Beben stark beschädigt. Ursprünglich sah der 2014 eingeführte Mechanismus für internationale humanitäre Hilfe vier Grenzübergänge vor: zwei in der Türkei, einen in Jordanien und einen im Irak. In den vergangenen Jahren haben Syriens Verbündete Russland und China ihr Vetorecht im UN-Sicherheitsrat jedoch dazu genutzt, die Zahl der genehmigten Lieferrouten zu reduzieren, sodass nur noch ein Grenzübergang übrig geblieben ist.

Tatsächlich hat der erste Hilfskonvoi der Vereinten Nationen Nordsyrien erst vier Tage nach den Erdbeben erreicht. Dabei fehlt es in dem Land an allem. Zwölf Jahre Krieg hinterließen über 90 Prozent der Bevölkerung nämlich schon vor den Erdbeben in Armut und ohne funktionierende Infrastruktur. So sind laut dem UN-Büro für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) von 4,6 Millionen Einwohnern im Nordwesten Syriens ca. 4,1 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen. Davon mangelt es mehr als siebzig Prozent an ausreichender Nahrungszufuhr.

Es fehlt an allem

Die Lage der Menschen in Syrien spitzt sich durch mangelhaft ausgerüstete, überlastete Krankenhäuser und extreme klimatische Bedingungen dramatisch zu. Das Land erlebt den kältesten Winter seit zwanzig Jahren, gefolgt auf zunehmenden Hitzewellen und Dürreperioden in den Sommermonaten, von denen sich die Bevölkerung noch nicht erholt hat. Im August letzten Jahres brach im Norden des Landes Cholera aus, eine Krankheit, die sich eigentlich durch funktionierende Wasserversorgung und hygienische Lebensstandards vermeiden ließe. Aber Wasser ist hier zu einem Luxus- und gleichzeitig Konfliktgut geworden. Das Wasser des Flusses Euphrat, der in der Türkei entspringt und durch Syrien fließt, schwindet nicht nur durch den fehlenden Niederschlag in der Region. Es wird insbesondere durch Staudämme in der Türkei zurückgehalten. Nun gibt es Berichte aus Afrin, wonach das Erdbeben über siebzig Zentimeter tiefe Risse in eine Hauptstraße verursacht haben soll. Die Straße führt zum Staudamm und wenn dieser in Folge des sich mit Wasser füllenden Asphalts reißt, so wird von Afrin nichts mehr übrig bleiben.

Viele Orte in Syrien existieren bereits jetzt lediglich in der Erinnerung. Bomben aus Damaskus, den Verbündeten aus Moskau und nicht zuletzt aus Ankara haben das einst schöne Zuhause und die reiche Natur der Menschen zerstört. Nicht zuletzt bestätigte das türkische Verteidigungsministerium mutmaßliche militärische Vergeltungsaktionen auf das kurdisch bewohnte Nordostsyrien - nur kurze Zeit nach den Erdbeben. Abgesehen davon ist der Nordosten Syriens der ständigen Gefahr von Angriffen durch den sogenannten IS ausgesetzt, dessen Anhänger:innen sich noch zu Tausenden in der Region aufhalten sollen. Die Lage ist dramatisch, die Menschen sind umzingelt von politischem Extremismus und nun außerdem den Folgen der Erdbeben perspektivlos ausgeliefert.

Sie alle brauchen dringend Hilfe. Unterschiedslos und so schnell wie möglich. Wenn die Erdbebenkatastrophe die Politik und andere Entscheidungsträger:innen an eins erinnert haben könnte, dann daran, dass wir einander brauchen und nur in friedlicher und kooperativer Koexistenz funktionieren.

Artikel geschrieben von:
Raze Baziani
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Einwohner bergen am 6. Februar 2023 ein verletztes Mädchen aus den Trümmern eines eingestürzten Gebäudes nach einem Erdbeben in der Stadt Jindayris auf dem Lande der nordwestlichen syrischen Stadt Afrin in dem von den Rebellen kontrollierten Teil der Provinz Aleppo.
© Foto von RAMI AL SAYED/AFP via Getty Images
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Mesut Hancer hält die Hand seiner 15-jährigen Tochter Irmak, die bei dem Erdbeben in Kahramanmaras in der Nähe des Epizentrums ums Leben kam, einen Tag nachdem ein Erdbeben der Stärke 7,8 den Südosten des Landes erschüttert hatte, am 7. Februar 2023.
© ADEM ALTAN/AFP via Getty Images
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