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Schwere Erdbeben erschüttern Afghanistan

19. Oktober 2023
Thema:Naturkatastrophen
located:Afghanistan
Von:Raze Baziani
Laut Angaben der Vereinten Nationen sollen bei den Erdbeben in Afghanistan bereits über 1.500 Menschen ihr Leben verloren haben und 43.000 weitere von der Naturkatastrophe direkt betroffen sein. Die tatsächlichen Zahlen, insbesondere die der Todesopfer, dürften jedoch wesentlich höher sein. Das Rote Kreuzes bezeichnet die Beben als die tödlichsten der vergangenen 20 Jahren in dem Land.

Das erste Beben ereignete sich am ersten Samstag im Oktober, gefolgt von einer Serie von weiteren schweren Beben.Ruhe ist bisher noch nicht eingekehrt. Erst vergangenen Sonntag ereignete sich ein weiteres Beben mit einer Intensität von 6.3, eine Höhe, die als „stark“ eingestuft wird und in besiedelten Gebieten zu Zerstörungen führen kann. Bereits jetzt wurden mehr als 3000 Häuser und dreizehn ganze Dörfer vollständig zertrümmert. Der Boden in der Region soll noch immer beben und die Sorge vor weiteren starken Erschütterungen ist groß.

Wettlauf gegen die Zeit

Die Menschen befinden sich in einem Wettlauf gegen die Zeit. Für viele ist das Rennen um Rettung bereits verloren. Nun drohen die großen Mengen an Schutt und Trümmern auch noch die Wasserquellen zu verunreinigen und zum Ausbruch von Krankheiten zu führen. Zumindest sollen die Taliban bisher Hilfskräfte und -lieferungen von internationalen Organisationen in die Region durchlassen, darunter von Ärzte ohne Grenzen und dem Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen. Gleichwohl gibt es auch Hinweise auf eine Verschärfung der Situation aufgrund der zögerlichen Haltung der Taliban bei der Erteilung von Genehmigungen und Erlaubnissen.

Es stellt sich außerdem wie so oft die Frage, ob die Hilfsleistungen ausreichen und sie auch wirklich bei den betroffenen Menschen ankommen. Viele Berichte lassen daran zweifeln. Eine Eskalation der humanitären Lage ist vermutlich nur noch eine Zeitfrage. Denn Afghanistan befand sich schon vor der Erdbebenkatastrophe in der schwierigsten humanitären Krise seiner Geschichte. Dem Welternährungsprogramm zufolge leiden 90 Prozent der Bevölkerung unter Ernährungsunsicherheit. Ein Drittel lebt in akuter Hungersnot, das bedeutet, sie leben, ohne zu wissen, wie sie ihre nächste Mahlzeit sichern können. Zu dem Kontext der humanitären Gefährdungslage tragen ferner Umweltprobleme bei. Das Land erlebt das dritte Jahr in Folge extreme Dürre. In wenigen Wochen beginnt der Winter und die Temperaturen in dem vom Erdbeben betroffenen Gebiet liegen nachts bei nur etwas mehr über zehn Grad. Ohne sicheres Obdach stehen die Überlebenschancen für die bereits geschwächte Zivilbevölkerung schlecht.

Trotz der verheerenden Folgen-kaum Aufmerksamkeit

Trotz der verheerenden humanitären Folgen erfährt die Naturkatastrophe in Afghanistan wenig Aufmerksamkeit. Sie dringen kaum durch, die Geschichten der Kinder, die von ihren Eltern getrennt in weit entfernte Krankenhäuser gebracht wurden und es vermutlich schwer haben werden, wieder nach Hause zu finden. Extreme Verarmung und Perspektivlosigkeit haben schon vor den Erdbeben dazu geführt, dass die Menschen nicht nur eigene Organe, sondern auch ihre Kinder verkaufen. Meldungen medizinischen Personals, das seit Jahren über schwerwiegende Medikamentenmängel klagt, finden keine Berücksichtigung mehr. Wir verbreiten sie nicht, die aktuellen Aufnahmen verzweifelter Männer, die auf den Trümmerhaufen beten und inmitten von Sandstürmen um ihre Familie trauern. Es waren nämlich vor allem Frauen und Kinder, die sich zur Mittagszeit in den Lehmhäusern aufhielten, als sich das erste Beben ereignete. Viele Männer arbeiteten zu diesem Zeitpunkt auf den Feldern, abseits der Gebäude.

Eine Erklärung für die fehlende Aufmerksamkeit für Afghanistan sind sicherlich die Terroranschläge der radikal-islamistischen Hamas auf Israel am selben Wochenende und der dadurch ausgebrochene Krieg in der Region. Interessanterweise war die Provinz Herat früher eine Hochburg jüdischen Lebens in Afghanistan. Man kann es sich in Anbetracht der Taliban-Herrschaft nicht vorstellen, aber diese Region bot für Jüd:innen, gerade denjenigen die vor der Verfolgung in Iran und Zentralasien geflohen waren, einst einen sicheren Zufluchtsort.

Nicht erst seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 dringen nur noch wenige Nachrichten aus Afghanistan nach außen. Nachrichten, die nicht bloß von Bomben oder Burkas handeln, umso weniger. Berichte, welche die Bemühungen der afghanischen Zivilbevölkerung um ein freieres Leben würdig widerspiegeln, gibt es kaum. Die internationale Politik erklärte vor zwei Jahren ihren Einsatz in Afghanistan für beendet und die Hoffnung für verloren.Die Folgen des Versagens wälzte man auf eine schuldlose afghanische Zivilbevölkerung ab, deren Bedürfnisse in den vergangenen Jahrzehnten von allen Seiten -intern, als auch extern - immer wieder übergangen worden waren. Die Schwierigkeit der Lage liegt auf der Hand. Die Zivilbevölkerung in Afghanistan nachhaltig zu unterstützen ohne dabei das Regime der Taliban zu stärken ist wohl eine der politischen Mammutaufgaben unserer Zeit.

Versagen unserer Politik

Nach und nach verblasste aber in den vergangenen zwei Jahren besonders auch das zivilgesellschaftliche Bemühen um eine Aufarbeitung der Wunden, die der abrupte Abzug aus Afghanistan verursachte. Die Empörung über das Versagen unserer Politik, die verzweifelt mittellose Menschen dem Elend aussetzte und dafür keine hinreichende Verantwortung übernahm, ist erschütternd gering.Unsere Politik ließ das afghanische Volk im Stich. Mit dem Desinteresse durch die Medien an den vielen Krisen in Afghanistan, wie dieser Erdbebenkatastrophe, sind wir dabei, einmal mehr das Gleiche zu tun.

Artikel geschrieben von:
raze
Raze Baziani
Autor:in
Afghanistan
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Blick auf die Trümmer nach dem Erdbeben der Stärke 6,3 in der westlichen Provinz Herat in Afghanistan am 15. Oktober 2023. Ein starkes Erdbeben hat Herat im Westen Afghanistans erschüttert, nur wenige Tage nachdem zwei starke Beben in der gleichen Region massive Schäden verursacht hatten.
© (Foto: Samir Mirwai/Anadolu via Getty Images)
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