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Indiens Vergewaltigungsopfer werden nicht gehört

29. September 2021
Thema:Frauenrechte
Von:Tish Sanghera
Inspiriert von einer weltweiten Kampagne gegen sexuelle Belästigung, erreichte die #MeToo Bewegung auch Indien im Jahre 2018. Aber während das Land die mutigen Frauen bewunderte, die ihre Geschichten von Angriffen erzählten und damit eine dringend nötige Diskussion über sexuelle Zustimmung auslösten, zeigt das neuste Urteil in einem Vergewaltigungsfall, dass sich nicht viel geändert hat.

Inspiriert von einer weltweiten Kampagne gegen sexuelle Belästigung, erreichte die #MeToo Bewegung auch Indien im Jahre 2018. Aber während das Land die mutigen Frauen bewunderte, die ihre Geschichten von Angriffen erzählten und damit eine dringend nötige Diskussion über sexuelle Zustimmung auslösten, zeigt das neuste Urteil in einem Vergewaltigungsfall, dass sich nicht viel geändert hat.

Der Fall dreht sich um eine Journalistin, die den Zeitungsredakteur Tarun Tejpal angezeigt hat, weil er sie in Goa im Jahr 2013 sexuell belästigt haben soll. Das umstrittene an dem Fall ist aber nicht Tejpals Freispruch (wenn auch dieser aufgrund der eindeutigen Beweislage und einem Eingeständnis in Form einer Entschuldigungsmail von ihm an die Journalistin überraschend kam), sondern die Erklärung zum Urteil des Richters Kshama Joshi. Die Urteilsbegründung liest sich wie eine Diffamierung des Opfers, ganz so als sei es eigentlich ihre Moralität, die vor Gericht stand. In der mehr als 500-Seiten langen Erklärung entblößt der Richter intime Details aus dem Leben des Opfers, wie ihre vergangenen sexuellen Beziehungen, Freundschaften mit Männern und ihr gelegentliches Trinkverhalten und führt diese als Grund dafür an, warum ihre Aussage nicht vertrauenswürdig sei. Nicht nur, dass diese Darstellung zutiefst frauenfeindlich ist, sie ist unerträglich regressiv – dahinter steht eine frustrierend altmodische Vorstellung davon, wie eine ideale indische Frau zu sein hat.

Aktivisten und ehemalige Mitarbeitende der Strafverfolgung haben außerdem kritisiert, wie der Richter behauptete, dass sich das Opfer nicht „normal“ verhalten hätte, nicht so, wie sich ein Vergewaltigungsopfer verhalten sollte – als ob es eine anerkannte, allgemeingültige Art gäbe, wie man auf so ein Trauma zu reagieren hat. So implizierte der Richter, dass das Opfer lüge, weil sie ihre Haltung gewahrt, das Opfer sei weder sichtbar „ängstlich noch traumatisiert“ gewesen, und den Fall nicht sofort der Polizei gemeldet hatte. Aus Sicht des Richters hätte ein Vergewaltigungsopfer sichtbar gebrochen zu sein, dabei wird die Tatsache ignoriert, dass die Journalistin während der Tat auf einem Arbeitsevent war und schon allein deswegen ihre Haltung wahren wollte, um ihren Job nicht zu verlieren.

Es ist enttäuschend, dass es der Rechtssprechung in Indien nicht gelingt, Frauen zu schützen und patriarchale Strukturen zu durchbrechen, umso mehr, als dass es sich im Fall des Richters um eine Frau handelt. Das zeigt, wie sehr Jahrhunderte des soziokulturellen Konditionierens tief in der Psyche einer Gesellschaft stecken, egal, um welches Geschlecht es betrifft. Aktivisten warnen, dass Rechtspersonal dringend in feministischen Fragen und Perspektiven geschult werden müsse – dies sei zentral, um sicherzustellen, dass Vergewaltigungsopfer einen fairen Prozess miterleben.

Noch frustrierender ist es, dass diese Strukturen und Muster selbst nach mehreren höchstproblematischen Urteilen in Vergewaltigungsfällen, bestehen bleiben. Nachdem ein indischer Richter im vergangenen Jahr erklärte, dass ein Vergewaltigungsopfer nach der Vergewaltigung nicht einschlafen würde, denn das „gehöre sich nicht für eine indische Frau“, hatten 17 verschiedenen Bürgerrechtsorganisationen gemeinsam einen offenen Brief an diesen Richter geschrieben. In diesem gaben sie an, zutiefst verstört und enttäuscht zu sein, vor allem, „als diejenigen, die seit Jahrzehnten daran arbeiten, diskriminierende Strukturen des Patriarchats abzuschaffen, die tief im politischen und sozialen System verhaftet sind, inklusive der Rechtsinstitutionen.“

Immer und immer wieder scheint es, als ob lediglich die Verhaltensweisen des Opfers unter die Lupe genommen würden und nicht die des Täters.

Nach dem Protest gegen das neuste Urteil in Goa, hat die Regierung des südindischen Bundesstaats übrigens eine Wiederaufnahme des Tejpal-Falles angekündigt. Aber während das im Einzelfall für die Journalistin und ihr Recht auf Gerechtigkeit eine gute Nachricht sein mag: Der Schaden ist angerichtet. Nicht nur wird sie ihre Traumatisierung wieder durchleben müssen – wie wahrscheinlich ist es, dass indische Frauen eine sexuelle Belästigung anzeigen, nachdem sie erleben mussten, wie die Journalistin bloßgestellt, lächerlich gemacht und verleumdet wurde? Die MeToo-Bewegung war nur ein kleiner Schritt dahin, das Leben und die Erlebnisse indischer Frauen zu verbessern, dieses Rechtsurteil jedoch war jedoch ein riesiger Rückschritt.

Aus dem Englischen von Katharina Höftmann Ciobotaru

Artikel geschrieben von:
tish_sanghera
Tish Sanghera
Autor:in
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© Pixabay
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