14. Dezember 2022 | |
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Themen: | Frauenrechte |
Von: | Sajad Hameed |
In: | Pakistan, Indien |
Laut einer Umfrage von Ärzte ohne Grenzen (MSF) zur psychischen Gesundheit aus dem Jahr 2015 leiden 50 Prozent der Frauen in Kaschmir - im Vergleich zu 37 Prozent der Männer – wahrscheinlich an einer Depression; 36 Prozent der Frauen (und 21 Prozent der Männer) hatten vermutlich eine Angststörung und 22 Prozent der Frauen (18 Prozent der Männer) litten an einer möglichen posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD).
Eine Erklärung für diese Ungleichheiten im Bereich der psychischen Gesundheit ist, dass kaschmirische Männer ihrem Unmut und ihrer Frustration durch Proteste und Musik - einschließlich Rap-Songs - meist in der lokalen Kaschmir-Sprache Luft machen können. Frauen in der Region hingegen fällt es oft schwer, ihren Schmerz auszudrücken, was vor allem auf die Islamisierung der Gesellschaft und damit einhergehende extrem konservativer Wertvorstellungen zurückzuführen ist.
Doch das Blatt scheint sich zu wenden, denn junge Frauen und Mädchen in Kaschmir brechen mit gesellschaftlichen Stereotypen - zum Teil durch das Rappen.
DIE MACHT DES RAP
Die Rap-Kultur kam in Kaschmir erstmals 2010 auf, als ein 17-jähriger Junge namens Tufail Mattoo auf dem Heimweg vom Unterricht während eines Straßenprotests in seinem Viertel Safa Kadal in Srinagar von den Streitkräften getötet wurde.
Sein Tod löste monatelange Proteste im Tal aus, in deren Folge Regierungstruppen rund 120 Zivilisten töteten.
Viele Kaschmiris wählten den Rap als Medium, um ihren Unmut und ihre Wut über das Vorgehen der Behörden auszudrücken, aber während das für Männer akzeptiert war, wurde das Interesse von Frauen an diesem Genre als schändlich angesehen und daher unterdrückt.
In den letzten Jahren haben trotzdem Dutzende von muslimischen Rapperinnen in Kaschmir begonnen, diese Kunstform zu nutzen, um die abscheulichen Verbrechen und Menschenrechtsverletzungen durch die örtlichen Sicherheitskräfte zu dokumentieren.
Die indischen Behörden haben aktiv versucht, Hunderte von männlichen Rappern durch Einschüchterung, Zensur und tägliche Schikanen zum Schweigen zu bringen, und zahlreiche Rapper und scharfe Kritiker der Regierung wurden gezwungen, die Region zu verlassen.
Doch trotz dieser Drohungen und Herausforderungen üben junge Rapperinnen mit ihrer Musik offen Kritik an der indischen Regierung und weisen auf die vielen Vorurteile hin, denen sie ausgesetzt sind und die die Ungleichheit aufrechterhalten.
Derzeit gibt es in Kaschmir etwa sechs Rapperinnen, die Musik machen, und Hunderte von Rap-Songs sind auf Social-Media-Seiten verfügbar.
Fairplanet stellt einige der Rapperinnen aus Kaschmir vor:
DIE STIMME DER FREIHEIT: IQRA NISAR
Iqra Nisar, 19, eine Schülerin der 9. Klasse aus Kaschmir, ist eine aufstrebende Rapperin und tritt unter dem Künstlernamen Rapper Yung Illa auf. Im Gespräch mit FairPlanet erwähnt Nisar den von ihr geschriebenen Hip-Hop-Song „Kash-Gang“, in dem es um die Ermordung von Burhan Wani - einem bekannten militanten Anführer der bewaffneten Widerstandsbewegung in Kaschmir - in einem Feuergefecht mit den Regierungstruppen am 8. Juli 2016 geht. Sein gewaltsamer Tod löste tagelange Ausschreitungen aus, bei der mehrere Zivilist:innen ums Leben kamen.
„Als ich 2016 meinen Freiheitssong schrieb, gab es einen riesigen Aufschrei und ganz Kaschmir trauerte um den Tod des Hizb-Kommandeurs Burhan Wani“, erzählt die junge Rapperin. „Ich habe meinen Song geschrieben, konnte ihn aber aus Angst vor staatlicher Unterdrückung nicht in den sozialen Medien verbreiten. Erst kürzlich habe ich ihn auf Drängen meines Freundes hochgeladen.“
Nachdem sie ihr Lied hochgeladen hatte, baten einige von Nisars Freunden und Verwandten sie jedoch, es aus Sorge um ihre Sicherheit zu entfernen. Aber Nisar ließ sich nicht beirren.
„Ich habe den Azadi [Freiheits]-Rap geschrieben, weil ich gesehen habe, wie viele junge Menschen ohne jede Rechtfertigung verhaftet und getötet wurden (...) Ich habe gedacht, ich muss etwas tun, um der Welt mitzuteilen, was in Kaschmir passiert.“
„Als junge Rapperin glaube ich, dass ich mich mit meinen Rapsongs gegen diese Menschenrechtsverletzungen wehren muss“, fügt sie hinzu. „Wenn nicht ich, wer soll dann für mein Volk eintreten und von seinem Leid berichten? Ich habe erst einen Song geschrieben, aber ich werde auf jeden Fall noch mehr darüber schreiben.“
Nisars Debüt in der lokalen Rap-Szene war jedoch mit vielen Herausforderungen verbunden. Sie fügt hinzu, dass es, als sie anfing, Rap zu singen, keine Studios gab, in denen sie aufnehmen konnte, abgesehen von ein paar Untergrundstudios, die so geheim waren, dass sie kaum jemand kannte.
Nisar berichtet auch, dass ihre Eltern äußerst besorgt und ängstlich sind, weil sie in einem, wie sie es nennt, „konservativen Staat“ leben. „In einer männerdominierten Gesellschaft wie Kaschmir“, erklärt sie, „bekommt man als Frau keine gute Plattform und die Leute werden einen nicht unterstützen.“
Nisar begann trotz allem, Rap-Songs in die sozialen Medien hochzuladen. Mit Erfolg: Sie wird langsam immer bekannter.
„Ich wurde anfangs nicht so sehr wahrgenommen, aber jetzt kommen so viele Leute und zeigen ihr Talent, brechen mit Vorurteilen“, berichtet sie stolz. „Wir lernen alle voneinander.“
TODESDROHUNGEN AUSGESETZT: ANAM NASIR
„Als ich in diesen Beruf eingestiegen bin, habe ich Todesdrohungen erhalten“, erzählt Anam Nasir, eine 19-jährige Rapperin aus Kaschmir, gegenüber FairPlanet. „Wie wir wissen, ist Kaschmir eine sehr konservative Gesellschaft, die von Männern dominiert wird. Die Leute hier mögen es nicht, wenn Mädchen solche Dinge tun. Sie können es nicht sehen, wenn eine Frau aus sich herauskommt und Karriere macht, sie sind eifersüchtig auf Frauen.“
Nasir fügt hinzu: „Sie denken, dass sie eine Frau und ihre Gedanken brechen können, indem sie ihr Drohungen schicken. Aber ich habe vor nichts Angst.“
„Ich habe mich auf mein Talent konzentriert und mich nicht um die Gedanken der Leute gekümmert“, erzählt sie weiter. „Meine Mutter ist meine größte Unterstützung und sie sagte mir immer wieder, dass ich mich auf mein Ziel konzentrieren soll und dass mir niemand etwas antun wird. Ich habe mehrmals daran gedacht, diesen Beruf aufzugeben, weil er so gefährlich ist, aber meine Mutter hat mir den Mut gegeben, nicht aufzugeben.“
Laut Nasir, die unter ihrem Künstlernamen Rapper Annie auftritt, begann ihr Interesse am Rap, als sie in der vierten Klasse war.
Nasir erzählt, dass Talha Anjum, ein junger pakistanischer Rap-Musiker, sie inspiriert hat. Seine Rapsongs berichten von der pakistanischen Kultur und dem täglichen Leben im Land – genau das gefällt ihr und genau das möchte sie auch tun.
„Meine Familie unterstützt mich sehr, aber aufgrund finanzieller Engpässe schenkt mein Vater meinem Beruf nicht viel Beachtung“, sagt sie. „Meine Verwandten haben meine Mutter immer verspottet und ihr gesagt, dass sie mich solche Dinge nicht tun lassen sollte. Aber meine Mutter steht wie ein Fels zu mir. Sie sagte ihnen immer: 'Anam ist meine Tochter, und es ist meine Entscheidung, ob ich sie unterstütze oder nicht.'“
GESCHLECHTERNORMEN IN FRAGE STELLEN: MEHAK ASHRAF
Mehak Ashraf, 21, die ihren Bachelor in Kunst macht, ist eine der führenden Rapperinnen und Texterinnen im indisch verwalteten Kaschmir und rappt seit ihrem zwölften Lebensjahr.
Ashraf, die vor Ort unter ihrem Künstlernamen Rapper Menime bekannt ist, beschränkt sich in ihren Liedern nicht nur auf den Krieg, sondern thematisiert auch das tägliche Leben in der Region.
„In der Rap-Musik spricht man über alles, was in der Umgebung oder im Leben passiert, und drückt das durch Rap aus“, so Ashraf gegenüber FairPlanet. „Rap-Musik bringt den Menschen verschiedene Perspektiven und schärft das Bewusstsein für so viele soziale Missstände, sei es politisch, sozial oder sonst wie.“
Ashraf nutzt Rap, um ihrem Ärger und Emotionen Luft zu machen, aber auch um ihre Ziele und Wünsche auszudrücken.
„Ich habe die Rap-Musik als eine Möglichkeit entdeckt, mich auszudrücken“, erzählt sie. „Ich habe einige Themen, die mit meinen Kämpfen und meinem Weg zu tun haben, z. B. meine Eltern, die mich nicht sehr unterstützen, die Ermächtigung der Frauen, der Kampf der Frauen und was sie durchmachen. Es gibt einige Raps [über Kaschmir], die ich geschrieben habe, aber im Moment möchte ich nicht darüber sprechen, du weißt schon, über ernste Themen“, fügte sie hinzu. „Ich möchte keine sensiblen Themen anfassen und in eine Kontroverse geraten.“
„Meine Eltern waren sehr besorgt um mich, da sie die konservative Gesellschaft kennen, in der wir leben“, fügt Ashraf hinzu. „In unserer Gesellschaft wird Rap-Musik weniger unterstützt - selbst männliche Künstler bekommen nicht viele Plattformen, wie sollte es also eine Frau leicht haben? Deswegen habe ich in den sozialen Medien angefangen und bin dann langsam populär geworden. Meine Eltern sagten mir, ich solle das nicht tun, aber ich ignoriere sie und möchte, dass andere Mädchen es mir nachtun.“
Ashraf fügte hinzu, dass sich die Menschen früher nicht gut in der Welt der Rap-Musik auskannten, sagte aber, dass „die junge Generation 100 Prozent gibt, um Hip-Hop nach Kaschmir zu bringen.“
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