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75 Jahre Allgemeine Erklärung der Menschenrechte: Eine Bestandsaufnahme

17. Dezember 2023
Thema:Menschenrechte
Von:Raze Baziani
Vor 75 Jahren verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEMR). 30 Artikel postulieren das Recht auf ein freies, würdiges und gleichberechtigtes Leben für alle Menschen - überall - und sollen so vor der Willkür politischer Akteure schützen. Obwohl die AEMR kein rechtsverbindliches Dokument ist, bildet sie die Quelle für den internationalen Schutz der Menschenrechte unserer Zeit. Denn viele der in ihr enthaltenen Garantien genießen gewohnheitsrechtliche Gültigkeit. Darüber hinaus wurden viele andere Verträge auf ihrer Grundlage geschlossen, wie z. B. das Übereinkommen über die Rechte des Kindes oder der Zivil- und Sozialpakt.

Was viele immer noch für ein westliches Dokument halten, ist das Ergebnis von Lehren aus jahrhundertelangen Kämpfen gegen Unterdrückung und Ausbeutung. Und in der Tat ein Werk, in dem nicht nur aufklärerische Ideen aus Europa verankert sind, sondern eines, das auch auf den Werten der konfuzianischen Moralphilosophie beruht. Es war der chinesische Philosoph und Diplomat Peng Chun Chang, ein überzeugter Konfuzianer, der sich als stellvertretender Vorsitzender der Kommission, welche die AEMR ausarbeitete, für die universelle Gültigkeit der Menschenrechte einsetzte. Trotzdem ist es richtig, dass die AEMR nicht den Beginn der Geschichte der Menschenrechte markiert. Die Charta von Manden kodifizierte bereits im frühen 13. Jahrhundert Werte, die den heutigen Menschenrechten innewohnen, wie die Unantastbarkeit des Menschen. Sie soll vom Gründer Malis, Sundiata Keïta, ausgerufen worden sein und wurde 2009 von der Unesco als kulturelles Erbe der Menschheit anerkannt.

BEGRENZTER KONTEXT

Unser kollektives Bewusstsein hat es jedoch bisher versäumt, die Ursprünge der Idee der Menschenrechte in Afrika zu verorten. Der ideengeschichtliche Ursprung der Menschenrechte wird selbst in der Wissenschaft häufig bloß in einem begrenzten kulturellen Kontext angebracht, der mit dieser Einengung zwangsläufig einen Überlegenheitsanspruch der sogenannten westlichen Welt verbindet. Oft wird auf die Magna Charta des mittelalterlichen Englands, das Zeitalter der Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert oder die amerikanische und französische Revolution verwiesen. Wenig wird darüber nachgedacht, auf wessen Rücken die eigentlichen Kämpfe um die Menschenrechte ausgetragen wurden. Erst in jüngster Zeit finden globalhistorische Ansätze zur Berücksichtigung überlieferter Werte vermehrtes Interesse.

So weit entfernt der Ursprungsort mancher Menschenrechte auch sein mag, wir müssen - anders als oft behauptet - gar nicht weit reisen, um zu sehen, wo sie nur unzureichend geachtet werden. Denn auch Deutschland ist von einer inklusiven Gesellschaft weit entfernt. Menschenrechtsverletzungen an den verletzlichsten Teilen der Gesellschaft geschehen hier oft unbemerkt. 2006 verabschiedeten die Vereinten Nationen das „Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderung“, das jedwede Form der Diskriminierung und Benachteiligung von Menschen mit Behinderung verbietet. Die Konvention ist in Deutschland seit 2009 in Kraft. In einem Staatenprüfverfahren im August dieses Jahres wurde allerdings festgestellt: Deutschland wird den Vorgaben des Übereinkommens nicht gerecht und hat es versäumt eine systematische Menschenrechtsperspektive zu etablieren, wenn es um die Rechte von Menschen mit Behinderung geht. 

BETROFFENE WERDEN ALLEINE GELASSEN

So gibt es z.B. kein Verbandsklagerecht zur Durchsetzung der UN-Konvention, das heißt die Möglichkeit für einen Verband, die Rechte von Menschen mit Behinderungen geltend zu machen, existieren nicht. Die Betroffenen müssen sich selbst darum kümmern. Und in den meisten Gesetzen, die sich mit der Diskriminierung von Menschen mit Behinderung explizit oder implizit befassen, sind die verfügbaren Rechtsmittel bloß auf Feststellungsurteile beschränkt. Damit werden Verstöße festgestellt, das ist gut. Und was dann? Die Betroffenen müssen sich erneut selbst um eine Entschädigung oder Gleichbehandlung bemühen. Es verwundert daher nicht, dass Rechtsschutz von Betroffenen nur selten in Anspruch genommen wird, obwohl ihre strukturelle Benachteiligung auf der Hand liegt. Diese Defizite liegen laut der Auswertungen unter anderem darin begründet, dass Organisationen die Menschen mit Behinderung repräsentieren, nur unzureichend gefördert werden. Sie werden außerdem weder aktiv an Entscheidungsprozessen, noch in beratender Funktion angemessen beteiligt. Und das in einem Land, in dem laut dem Statistischen Bundesamt fast jeder zehnte Mensch mit einer Schwerbehinderung lebt.

UMSETZUNG DER MENSCHENRECHTE SCHWIERIG

Menschenrechte haben den Anspruch universell zu gelten, aber ihre Umsetzung bleibt vom politischen Willen abhängig. Die Institutionen, die sich für Menschenrechte einsetzen sind politisch und sie behandeln weder alle Menschen, noch das Weltgeschehen mit einer neutralen Perspektive. Das hat nicht zuletzt UN Women, das Organ, das sich mit geschlechtsspezifischen Fragen befasst, auch auf globaler Ebene bewiesen. Erst acht Wochen nach dem Terrorangriff der Hamas auf israelische Zivilist:innen äußerte sich UN-Women öffentlich zu den Vergewaltigungen und Misshandlungen israelischer Frauen. Dabei lagen bereits unmittelbar nach dem 7. Oktober Beweise für extreme sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt vor.  

So sehr die verschiedenen Organe der Vereinten Nationen auch von politischer Verantwortung sprechen, so wenig werden sie selbst zur Rechenschaft gezogen, wenn es um ihre eigenen Versäumnisse geht. Nicht selten haben sich nämlich UN-Angestellte selbst der sexualisierten Gewalt schuldig gemacht. Eigenen UN-Daten zufolge gibt es seit 2015 jedes Jahr ununterbrochen Vorwürfe der sexualisierten Gewalt gegen Blauhelmsoldaten, die als Teil von Friedensmissionen in Krisengebiete entsandt werden. Fast die Hälfte aller Missbrauchstaten sollen dabei in der Demokratischen Republik Kongo begangen worden sein. Im Fokus stehen auch andere Länder wie Bosnien und Herzegowina, Liberia, Sierra Leone, der Südsudan oder Haiti.

AUSBEUTUNG STATT FRIEDEN

Es gibt Berichte über haitianische Frauen, die Opfer von Vergewaltigungen wurden, aus denen Kinder hervorgingen. Begangen durch so genannte Friedenssoldaten, die schutzbedürftige Menschen ausbeuteten. Doch statt einer angemessene Aufarbeitung erhielten die Opfer bloß eine Kompensation für die Schulkosten der so auf die Welt gekommenen Kinder. Und auch das nicht persönlich, sondern über zwischengeschaltete Organisationen. Denn die Vereinten Nationen leisten zwar Geldtransfers an Begünstigte von Entwicklungsprogrammen. Es gibt jedoch kein Geld für die Opfer von Gewalttaten, die von ihren eigenen Mitarbeitern verübt wurden. Ebenso wenig gibt es direkte Strafverfahren gegen solche Täter. Das liegt daran, dass Mitglieder von Friedensmissionen in den Einsatzländern strafrechtlich nicht belangt werden können, sondern Immunität genießen. Über ihre Strafverfolgung entscheidet das Land, das sie entsandt hat. In vielen Fällen geschieht jedoch gar nichts. Bis Ende 2015 hielten die Vereinten Nationen sogar geheim, welches Land die mutmaßlichen Täter entsandt hatte. Allein angesichts der Zusammensetzung der Vereinten Nationen, eines Systems, das von Staaten für Staaten geschaffen wurde, liegt es auf der Hand, dass sie nicht der moralische Kompass sein können, wenn es um die Wahrung von Menschenrechten geht. Vielmehr sind sie Urheber verschiedener Schieflagen und damit die Adressaten von Verantwortung - die sie teilweise sogar systematisch untergraben. 

75 Jahre nach der Verabschiedung der Menschenrechtscharta fehlt es an effektiven internationalen Durchsetzungsinstrumenten. Denn internationale Gerichte haben eine eingeschränkte Jurisdiktion, die von der Selbstverpflichtung der Staaten abhängt. Konkret heißt das, dass ihre Urteile nicht ohne die Kooperation der Staaten durchgesetzt werden können. Es fehlt aber auch an Mechanismen, die nach innen greifen, um beispielsweise die Arbeit von Institutionen der Vereinten Nationen selbst zu überwachen.

Darüber hinaus greift der Schutz der Menschenrechte zu kurz, wenn er sich nur auf die Rechtsanwendung konzentriert. Langfristig muss ein ganzheitlicher Ansatz neue Dimensionen des Menschenrechtsschutzes schaffen, beginnend mit einer Schulbildung, die das Verständnis für die Menschenrechte von klein auf fördert und nicht allein den akademischen Eliten überlässt. Ein effektives Menschenrechtssystem entsteht in einem nächsten Schritt aber erst dann, wenn lokale Bürgerinitiativen gefördert und beteiligt werden. Um den Schutz der Menschenrechte nicht nur als Aufgabe einzelner Staaten oder Institutionen, sondern als gemeinsame Verantwortung aller Mitglieder der Weltgemeinschaft zu verstehen, gilt es mithin, eine Gesellschaft zu fördern, die in all ihren Strukturen auf Toleranz, Verständnis und Solidarität beruht.

Artikel geschrieben von:
raze
Raze Baziani
Autor:in
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UN-Blauhelmsoldaten im März 2011 in Port-au-Prince, Haiti.
© Allison Shelley/Getty Images
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