Read, Debate: Engage.

Israel muss sich in Den Haag wegen der Anklage des Völkermords verteidigen

11. Januar 2024
Thema:Menschenrechte
Von:Raze Baziani, Katharina Höftmann Ciobotaru
Am 29. Dezember des vergangenen Jahres reichte Südafrika eine Klage ein, in der Israel Völkermord an den Palästinenser*innen vorgeworfen und die Anordnung vorläufiger Maßnahmen erbeten wird. Nun starteten im niederländischen Den Haag die zweitägigen Anhörungen.

Als höchstes Gericht der Vereinten Nationen regelt der IGH Streitigkeiten zwischen UN-Mitgliedstaaten und beantwortet Anträge auf Gutachten zu Rechtsfragen. Obwohl das Gericht nicht befugt ist, Handlungen einzelner Personen strafrechtlich zu verfolgen, besitzen seine Meinungen und Urteile erhebliches politisches Gewicht. Immerhin sind die Urteile rechtlich bindend für die Parteien des IGH. Und zu denen gehören sowohl Israel als auch Südafrika. In der Praxis sind die Urteile allerdings nicht durchsetzbar, wie man am anhaltenden russischen Angriffskrieg in der Ukraine sieht. Da hatte der IGH im März 2022 ein sofortiges Ende angeordnet. Nichts dergleichen ist seitdem passiert.

Es werden vorläufige Maßnahmen gefordert

Der IGH wird an diesen zwei Tagen also zuerst einmal nicht darüber entscheiden, ob Israel einen Völkermord begeht oder nicht. Vielmehr werden die 15 Richter:innen beurteilen, ob die Argumente Südafrikas stark genug sind, um vorläufige Maßnahmen anzuordnen. Diese vorläufigen Maßnahmen, sollen die Palästinenser:innen, so der Antrag, „vor weiterem, schwerem und irreparablem Schaden schützen“. Israel soll angehalten werden, seinen Verpflichtungen aus der Völkermordkonvention nachzukommen, mithin „keinen Völkermord begehen und Völkermord verhindern und bestrafen“, heißt es weiter in der 84-seitigen Klageschrift. Israel bestritt die Vorwürfe bereits im Vorfeld. Das Land beruft sich darauf im Einklang mit dem internationalen Recht gegen die Hamas und nicht die Palästinenser:innen als Volk vorzugehen. Morgen ist Israel an der Reihe seine Position vorzutragen.

Beim Vortrag der Klageschrift erwähnten die Anwält:innen Südafrikas bei der ersten Anhörung immer wieder die angeblichen Gemeinsamkeiten zwischen dem Schicksal der Palästinenser:innen und demjenigen der Schwarzen in Südafrika zur Zeit der Apartheid. Das Bemühen Südafrikas am IGH ist augenscheinlich in weiten Teilen politisch motiviert. Daran ist zunächst einmal nichts ungewöhnlich, so funktionieren internationale Beziehungen. Und es ist folgerichtig, politische Dispute vor denjenigen Institutionen auszuhandeln, welche die internationale Gemeinschaft für die Bearbeitung solcher Themen errichtet hat. Südafrikas Handeln erscheint aber vor allem dann scheinheilig, wenn man bedenkt, dass der südafrikanische Präsident Ramaphosa erst vor einer Woche Mohamed Hamdan Dagalo empfangen hat, den Anführer der sudanesischen Rapid Support Forces (RSF). Besser bekannt als Hemedti ist er als Militärkommandeur für ethnisch motivierte Massentötungen und -vergewaltigungen, einschließlich an jungen Mädchen, insbesondere in West-Darfur verantwortlich. Südafrika unternimmt in dieser Angelegenheit keine Maßnahmen zum Schutz der massalitische Bevölkerung, sondern empfängt ganz offiziell einen Kriegsverbrecher.

Proteste vor dem IGH

Vor dem IGH wird am Donnerstag protestiert. Aktivist:innen aus ganz Europa sind angereist, um die Anhörung zu verfolgen. Das Interesse an diesem Fall ist groß. Das lässt sich nicht bei allen Fällen behaupten mit denen der IGH beschäftigt ist. Oder haben Sie schon einmal von dem Disput zwischen Äquatorialguinea und Frankreich gehört, in den der Sohn des Diktators des westafrikanischen Landes verwickelt war? Ein richtungsweisendes Urteil, nicht nur juristisch, sondern auch politisch. Denn es machte deutlich, dass hochrangige Amtsträger:innen für Wirtschaftskriminalität zur Rechenschaft gezogen werden können und ihre diplomatische Immunität nicht ausnahmslos genießen. Ein Fall, der potenziell interessant für alle sein müsste, die sich für Menschenrechte interessieren. Denn Äquatorialguinea weist eines der schlechtesten Menschenrechtsbilanzen weltweit auf.

Geht es hingegen um Israel, dann schaut die ganze Welt hin. Dem Krieg in Gaza und Israel fallen täglich Menschen zum Opfer. Allein in Gaza sollen nach Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums seit Beginn der Gegenangriffe der israelischen Armee mehr als 20.000 Menschen getötet worden sein, und er droht sich durch die Involvierung der libanesischen Hisbollah und der jeministischen Houthi als weitere Proxys des Irans regional auszuweiten. Doch dass die Anwältin Adila Hassim am IGH vorträgt, „nichts könnte das Leiden der Palästinenser:innen stoppen als ein Urteil des Gerichts“ ist irreführend. Denn es bleibt höchst unwahrscheinlich, dass ein Urteil das Geschehen vor Ort zu gegebener Zeit beeinflussen wird. Politisches Handeln orientierte sich auch in der Vergangenheit nicht an der Meinung des IGH.

Auch der Hamas könnte man Völkermord vorwerfen

Eine IGH-Entscheidung könnte im Bezug auf die vorläufigen Maßnahmen zwar relativ schnell erfolgen, sollte zugunsten des Antrages entschieden werden, wären die Maßnahmen jedoch nur vorübergehend. In einem späteren Stadium müssten die Richter:innen dann über den Übergang des Falles in die Beweisführungsphase entscheiden. Dies wäre der Startpunkt für einen umfassenden Prozess in dem sich das Gericht mit der Frage befassen würde, ob Israel einen Völkermord begeht, begangen hat oder nicht. Dies Thema würde Gegenstand einer langjährigen Auseinandersetzung werden. Bei einem solch schwerwiegenden Vorwurf ist das allerdings auch berechtigt. 

Der Vorwurf des Genozids gegen Israel wird schon seit einigen Jahren vor allem in aktivistischen Kreisen bemüht. Das liegt auch daran, dass Mitglieder der aktuellen rechtsgerichteten israelischen Regierung immer wieder mit genozidaler Rhetorik auffallen. Darüber hinaus handelt es sich bei den Auseinandersetzungen zwischen der Hamas und Israel seit jeher um asymmetrische Kriege: Die in Gaza regierende Terrororganisation beginnt die militärischen Operationen und zwingt die israelische Armee zu verheerenden Vergeltungsschlägen. Die Opferzahlen in Gaza sind schlussendlich immer höher, als die in Israel. Doch die Auseinandersetzung mit dem juristischen Tatbestand des Genozids sollte Sache von Expert:innen sein, denen erforderliche Beweismittel vorliegen und die entsprechend des Ergebnisses Maßnahmen anordnen können. Im Zweifel auch gegen Organisationen wie die Hamas, deren Handlungen man zumindest materiell auch unter den Tatbestand des Genozids subsumieren könnte, immerhin ist der aktuelle Gaza-Krieg die Folge des Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober, bei dem mehr als 1200 Israelis ermordet und mehr als 300 Menschen aus Israel entführt wurden, die meisten davon Zivilist:innen. Zumal die Hamas in ihrer Gründungscharta als Zielsetzung die Auslöschung alles jüdischen Lebens sogar schwarz auf weiß niedergeschrieben hat. Darüber hinaus ist Völkermord auch am eigenen Volk begehbar, die hohen Opferzahlen im aktuellen Gaza-Krieg sind nicht zuletzt auch eine Folge dessen, dass die Hamas sämtliche Hilfsgelder ausschließlich für die eigenen Kriegszwecke verwendet und den Gazastreifen seit dem Ende der israelischen Besatzung 2005 sukzessive ins wirtschaftliche und humanitäre Elend geführt hat.

Eine verquere, gefährliche Logik

Solche Überlegungen gehören zu einer umfassenden Untersuchung der aktuellen Situation dazu. Die Klage Südafrikas beinhaltete solche Details nicht. Mit wenigen Worten trug der britische Anwalt Vaughan Lowe zum Schluss der Anhörung heute vor, dass die Hamas kein Staat sei und damit auch kein Vertragspartner der Völkermordkonvention sein könnte. Deshalb könnte sie Lowe zufolge nach internationalem Recht keinen Völkermord begehen. Das kann man juristisch so sehen. Es ist aber eine rigide, staatszentrierte Perspektive, die einerseits der politischen Realität nicht gerecht wird, wie man jüngst am Genozid des sogenannten Islamischen Staates an den Jesid:innen gesehen hat.

Andererseits verkennt diese Perspektive, dass die Hamas nachweislich von fremden Staaten logistisch, finanziell und militärisch unterstützt wird und nicht auf einer Ebene mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen steht. Darüber hinaus trägt diese Logik dazu bei, eine Strafbarkeitslücke aufrechtzuerhalten, die Staaten dazu ermutigt, durch Stellvertreterorganisationen, sogenannte Proxys, zu handeln und sich ihrer Verantwortung zu entziehen.

Fälle vor dem Internationalen Strafgerichtshof vielversprechender

Vielversprechender als der Fall am IGH könnten jene vor dem Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) sein. Der IStGH ist, anders als der IGH, für die Verurteilung von Individuen zuständig, die schwerste internationale Verbrechen begangen haben. Dem Gerichtshof liegen mehrere Fälle bezüglich des aktuellen Geschehens Nahost vor. Im Oktober 2023 reichte Reporter ohne Grenzen die erste Beschwerde ein. Sie bezieht sich auf den Tod von neun Journalist:innen: einem Israeli, der während des Angriffs auf seinen Kibbuz am 7. Oktober getötet wurde, und acht Palästinenser:innen. Dies ist der dritte Fall, den RSF seit 2018 beim IStGH eingereicht hat. Zuvor hatten sie zusammen mit dem katarischen Sender Al Jazeera auch eine Beschwerde eingereicht, die sich auf den Fall der Journalistin Shirin Abu Akleh bezog.

Sodann legten im November neun israelische Familien, die Opfer des Hamas-Massakers vom 7. Oktober wurden, eine Beschwerde wegen „Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord“ vor. Sie forderten die Prüfung internationaler Haftbefehle gegen führende Hamas-Mitglieder. Nur Tage später erreichten den IStGH zwei weitere Anträge. Ein Kollektiv aus über hundert Jurist:innen aus verschiedenen Ländern reichte eine Klage wegen „Völkermords“ in Gaza ein. Am selben Tag beantragten drei palästinensische Menschenrechtsorganisationen eine Beschwerde wegen „Kriegsverbrechen“, „Apartheid“, „Völkermord“ und „Anstiftung zum Völkermord“, mit der Forderung, Haftbefehle gegen drei israelische Führer zu erlassen.

Auch wenn Israel kein Mitglied des IStGH ist, reicht es für die Eröffnung der Verfahren vor dem IStGH aus, dass eine Partei ihre Zustimmung zur Rechtsprechung des Gerichtshofs erklärt. Das hatte die palästinensische Fatah-Regierung im Jahr 2015 getan. Bisher hat sich das Gericht der aktuellen Rechtssachen noch nicht angenommen.

Klar ist jedoch, dass die Verantwortlichen für den aktuellen Gaza-Krieg vor das Weltstrafgericht gehören. Sie sind es nämlich, die jeden Tag das Leben von Zivilist:innen opfern und sie ihrer Zukunft berauben, während sie sich selbst in Sicherheit und Wohlstand wähnen. Dabei gab es bisher viele Taten seitens der Hamas, die eindeutig gegen die Genfer Konventionen verstoßen und als Kriegsverbrechen oder als Verbrechen gegen die Menschlichkeit einzustufen sind. Dazu gehören u.a. das militärische Agieren der Terrororganisation aus Schulen und Krankenhäusern heraus sowie die brutalen Vergewaltigungen von israelischen Frauen durch palästinensische Terroristen und nicht zuletzt die gewaltsamen Entführungen hunderter israelischer Zivilisten, darunter viele Kinder und ein zehn Monate altes Baby.

Artikel geschrieben von:
raze
Raze Baziani
Autor:in
.
ecco_katharina_hoeftmann
Katharina Höftmann Ciobotaru
Autor:in
.
.