30. Januar 2023 | |
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Thema: | Menschenrechte |
Von: | Raze Baziani |
Ich hatte gerade Semesterferien und als ich erfuhr, was sich in meiner ehemaligen Heimat abspielte, war klar, dass ich zurück muss. Mit meiner Mutter flog ich nach Erbil, nach Irakisch-Kurdistan. Es war schwierig, überhaupt eine Flugverbindung zu bekommen und in unserem Flieger befanden sich weniger als zehn Leute. Mehrere Wochen leistete ich humanitäre Arbeit bei einer lokalen Organisation in einer Region, in der einst nur etwas mehr als sechs Millionen Menschen einheimisch waren und dann fast zwei Millionen Vertriebene dazukamen. Der IS war nur 80 Kilometer Luftlinie von uns entfernt, aber wir begriffen zu dem Zeitpunkt noch nicht, was genau geschehen war. Die meisten von uns waren Ehrenamtliche die selbst eine Familiengeschichte hatten, die von Vertreibungen und politischer Gewalt geprägt war. Und nie hätten wir geglaubt, dass die damals neu errichteten Geflüchtetenunterkünfte bis heute bestehen würden. Nie hätten wir für möglich gehalten, dass der IS bis heute existieren und seine Gräueltaten weiter verüben würde.
Acht Jahre nach Beginn des Völkermords - die Annerkung
Circa achteinhalb Jahre später hat der Deutsche Bundestag einstimmig und interfraktionell als Völkermord anerkannt, was Völkermord ist. Damit reiht sich der Beschluss in die Position des Europäischen Parlaments, der Vereinten Nationen und einer Handvoll Staaten wie Armenien und Australien ein. In den Herkunftsländern der Êzîd:innen blieb die Anerkennung bisher jedoch aus.
Tatsächlich befinden sich viele von ihnen in Geflüchtetenunterkünften ohne Aussicht auf eine Rückkehr in ihre zerstörte Heimat. Aus einem Provisorium von Zelten wurde für viele Alltag und aus dem Erlebten ein lebenslang unvergessliches Leid. Denn es ist nicht nur die geographische Entwurzelung welche die Êzîd:innen bis heute quält.
Die Gewaltgeschichten dauern noch an, auch für diejenigen die sich nun eigentlich in Sicherheit befinden. Wie sollen die Wunden denn auch beginnen zu heilen, wenn von tausenden Menschen jede Spur fehlt? Etliche Familien wurden auseinandergerissen, junge Mädchen und Frauen verschleppt und auf „Sklav:innenmärkten“ im irakischen Mosul und syrischen Raqqa „verkauft“. Männer, die sich der islamistischen Ideologie der Terrormiliz nicht anschließen und ihren êzîdischen Glauben nicht aufgeben wollten, wurden auf der Stelle erschossen oder lebendig begraben. Jungen wurden entführt, umerzogen und als Kindersoldaten missbraucht. Die Êzîd:innen wurden nicht nur ihrer Heimat und Sicherheit beraubt, sondern auch ihrer Menschlichkeit.
Eine Religion ohne Konzept der "bösen Macht"
Das Êzîdentum ist eine eigenständige monotheistische Religion, die im alten Mesopotamien entstand. Die Werte des Êzîdentums widmen sich dem Guten und rücken die Eigenverantwortlichkeit der Menschen in den Mittelpunkt. Es gibt nach diesem Glauben keine andere Macht neben Gott, welche Menschen zu bösen Handlungen verleiten würde. Die meisten Êzîd:innen orientieren sich außerdem an einer naturverbundenen Lebensweise. Doch seit jeher ist das Êzîdentum massiver systematischer Verfolgung ausgesetzt, insbesondere durch radikale Islamist:innen welche die Êzîd:innen als „Ungläubige“ verfolgen.
Außenstehenden war bisher wenig über die êzîdische Gemeinschaft bekannt, schließlich wurden ihre Werte und Riten überwiegend mündlich überliefert. Die Êzîd:innen versteckten nicht selten aus Angst vor Vernichtung ihre Identität oder schotteten sich ab. Die meisten von ihnen leben vor allem im Irak und in Syrien. Wenige der geschätzten 1,5 Millionen Angehörigen leben auch in der Türkei und Iran. Die größte Diaspora hat nun in Deutschland eine neue Heimat gefunden, größtenteils als Kontingentgeflüchtete. Und es ist eine Tatsache, dass die Êzîd:innen einem der größten Menschheitsverbrechen der aktuellen Zeit ins Auge blicken mussten, bevor wir anfingen uns für sie zu interessieren.
Ein wichtiger Schritt
Die deutsche Anerkennung des Völkermordes an den Êzîd:innen ist ein wichtiger Schritt in Richtung Gerechtigkeit. Denn mit ihr waren zum ersten Mal auch konkrete Forderungen für Wiederaufbau und Befriedung verbunden. Mag die Heimat der Êzîd:innen aus hiesiger Sicht weit entfernt scheinen, so leben ehemalige Terrorist:innen mittlerweile mit neuen Identitäten auch in Europa, teilweise auf freiem Fuß. So wie in dem Fall, bei dem eine angeklagte deutsche Staatsangehörige beschuldigt wird, sich mit ihrem Mann dem IS angeschlossen zu haben. Zusammen sollen sie unter anderem in einen Geldtransfer von Deutschland ins Herrschaftsgebiet des IS eingebunden gewesen sein. Laut dem Bundesamt für Verfassungsschutz sollen in den letzten zehn Jahren mehr als tausend Deutsche in die IS-besetzten Gebiete gereist sein, um sich dem dschihadistischen Terrorismus anzuschließen.
Die Anerkennung des Völkermordes ist mithin kein bloß symbolischer Akt der Politik, sondern speist sich auch aus einer Verantwortung für die Ahndung internationaler Verbrechen gegen die Menschlichkeit.
Tatsächlich spielt die deutsche Justiz in der juristischen Aufarbeitung des Völkermordes eine international herausragende Rolle. Im Jahr 2021 fiel das weltweit erste Urteil wegen der Verbrechen des IS an den Êzîd:innen am Frankfurter Oberlandesgericht. Ein irakischer Staatsangehöriger wurde unter anderem wegen des Völkermordes an den Êzîd:innen in Tateinheit mit einem Verbrechen gegen die Menschlichkeit mit Todesfolge sowie Menschenhandel zum Zwecke der Arbeitsausbeutung zu lebenslanger Haft verurteilt.
Der Täter hatte zusammen mit seiner Ehefrau eine êzîdische Fünfjährige misshandelt, gequält und in der Mittagshitze angekettet an einem Fenstergitter zu Tode verdursten lassen. Das kleine Mädchen erlag einem Schicksal, das viele Êzîd:innen teilen. Sie verharrte bis zu ihrem Tod mit ihrer Mutter als Sklavin in der Gefangenschaft der beiden Verurteilen. Nun wurde auch die Revision des Angeklagten auf höchster Instanz vom Bundesgerichtshof zurückgewiesen und damit ein internationales Novum eingeläutet.
Das wichtige Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit
Abgesehen davon, dass dies historisch gesehen der erste Fall war, der sich mit den Verbrechen an den Êzîd:innen befasste und den Tatbestand des Völkermords in die Anklage miteinbezog, war es auch der erste Prozess der nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit verhandelt worden ist.
Dieses sogenannte Universalitätsprinzip ermöglicht Drittstaaten Angeklagte vor ihren nationalen Gerichten zu verfolgen, unabhängig davon, wo das Verbrechen begangen wurde oder welche Nationalität die angeklagte Person hat. Ein wichtiger Baustein hin zu globaler Strafgerechtigkeit, um Täter:innen international zur Verantwortung zu ziehen und so Straflücken zu schließen.
Doch trotz allen juristischen und politischen Erfolgen bleiben viele Fragen offen. Wo sind sie, die nahezu 3.000 entführten Menschen von denen seit Jahren keine Spur mehr zu finden ist? Leben sie noch und wissen sie noch wer sie sind? Wie viele weitere Massengräber werden wohl gefunden werden? Und wer bringt sie zurück, die vielen kleinen verschleppten Mädchen die nun junge Frauen sein müssen? Die wirkliche Arbeit fängt also gerade erst an.