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Eine Heimat, die nicht mehr ist.

11. Oktober 2023
Thema:Menschenrechte
Von:Raze Baziani
Bereits Mitte Dezember letzten Jahres begannen aserbaidschanische Streitkräfte, die sogenannte "Straße des Lebens", den Lachin-Korridor, den einzigen Landweg zwischen Armenien und Bergkarabach für jeglichen Verkehr zu sperren.

Lebenswichtige Güter wie Lebensmittel, Medikamente sowie Treibstoff gelangten nicht mehr in die Region. Seit Juni hatte keine humanitäre Hilfe mehr die Menschen in Bergkarabach erreicht. Als sie am Rande des Verhungerns standen, startete Aserbaidschan schließlich in der Nacht des 19. September einen Militärschlag auf die Region. In weniger als zwei Wochen wurden nahezu alle Bewohner:innen aus Bergkarabach vertrieben. Als Teil der Kapitulationsbedingungen wurde die Regionalregierung außerdem zur Auflösung der De-facto-Republik angehalten. Arzach, wie die Armenier:innen ihre Heimat nennen, soll es zum 01. Januar 2024 nicht mehr geben. 

Oft ist in diesem Zusammenhang von ethnischer „Säuberung“ die Rede. Doch was in den vergangenen Tagen stattfand ist vielmehr eine Auslöschung - von armenischem Leben und Kultur. Denn zu beobachten war politische Gewalt gegen Zivilist:innen, die in überwiegend armen Verhältnissen lebten, kaum respektive schlecht ausgerüstet waren, ohne Schutz auf sich selbst gestellt waren und nun keine Aussicht auf Rückkehr haben. 

Selbst die sogenannte Schutzmacht Russland, die an den Grenzen Bergkarabachs stationiert ist, griff nicht ein. Eigentlich war auf sie ohnehin nie Verlass. Bei vergangenen Eskalationen griffen die russischen Streitkräfte nur verspätet ein, ließen Gewalteskalationen und Gebietseroberungen durch Aserbaidschan geschehen. Beim letzten Krieg im Jahr 2020 schritten die russischen Streitkräfte erst im letzten Moment ein, nachdem es 6500 Tote auf beiden Seiten gab und die aserische Übernahme Bergkarabachs kurz bevor stand. Dabei sind die Soldaten in der Region stationiert, um eigenen Angaben nach für Stabilität und Frieden zu sorgen. Doch laut dem aserischem Verteidigungsministerium erfolgte der aktuelle Überfall auf Bergkarabach nach vorheriger Absprache mit Ankara - und Moskau. Von einer Schutzmacht kann daher keine Rede sein. Hinter der Fassade beliefert Russland immerhin schon lange beide Seiten mit Waffen und nutzt Aserbaidschan jüngst als Umschlagpunkt zur Umgehung von Sanktionen. 

Aserbaidschan erklärt den Überfall damit, die „verfassungsmäßige Ordnung“ wiederherstellen zu wollen. Die Gebietseinnahmen der Armenier:innen wolle man nicht länger hinnehmen. Immer wieder betont der aserische Präsident Ilham Alijew sein Recht auf territoriale Integrität - eine kalkulierte Erzählung, die auch in vielen deutschen Medien reproduziert wird. Doch ohne eine nähere Erläuterung dieser Situation werden damit geschichtliche Entwicklungen umgedeutet und völkerrechtliche Prinzipien instrumentalisiert. 

Schon seit der Antike stellen die Armenier:innen die deutliche Bevölkerungsmehrheit in der Region um Bergkarabach dar. Es ist ihre indigene Heimat, aus der sie nun vertrieben wurden. In der jüngsten Geschichte war es Joseph Stalin, der das Gebiet Anfang des 20. Jahrhunderts ohne Konsultation der lokalen Bevölkerung an Aserbaidschan verschenkte. Infolge der pauschalen internationalen Anerkennung der territorialen Grenzen der ehemaligen Sowjetrepubliken wird Bergkarabach deshalb von vielen als ein Teil Aserbaidschans verstanden. Laut Resolutionen der Vereinten Nationen ist der Status von dieser Region jedoch im Zuge von Friedensverhandlungen zu entscheiden. Dies ist bis heute nicht derart geschehen.

Außerdem steht diesem willkürlich geschaffenen Umstand das Selbstbestimmungsrecht der Völker gegenüber, welches ebenfalls im Völkerrecht verankert ist - wenngleich nicht mit der gleichen juristischen Schärfe. Von diesem Recht machten die Menschen in Bergkarabach 1991 qua Referendum demokratisch gebrauch. Sie sprachen sich für eine Unabhängigkeit von Aserbaidschan aus und gründeten ihre eigene Republik. Selbstbestimmung stand den Karabach-Armenier:innen historisch begründet und angesichts existenzieller Bedrohung als Recht zu, das sie auf ihrer indigenen Heimat ausübten. Ein Recht, das unter anderem auch dadurch untergraben wird, dass die Öffentlichkeit und Medien von Bergkarabach unpräzise als einen völkerrechtlichen Bestandteil Aserbaidschans sprechen. Selbst wenn man die Historie der Region ausklammern und Bergkarabach als aserisches Territorium definieren möchte, so ist die unterschiedslose Anwendung militärischer Gewalt, das Aushungern und die Zwangsvertreibung von Menschen eine grobe Verletzung elementarer Menschenrechte. Damit verstößt Aserbaidschan ohne Zweifel selbst gegen das Völkerrecht, und zwar nicht zum ersten Mal.

Immer wieder erlebten die Armenier:innen, nicht nur, aber in jüngster Geschichte besonders, in Aserbaidschan gezielte Verfolgung und Massengewalt. Nur etwas mehr als dreißig Jahre ist das letzte Pogrom im aserischen Baku an den Armenier:innen her. Heute lebt kaum eine Armenierin oder ein Armenier noch dort. Vertreibung und Gewalt gegen sie ist ein Kontinuum in dieser Region. So wie das Ausbleiben internationaler Unterstützung. An den Völkermord an den Armenier:innen, verübt durch die Jungtürk:innen im Osmanischen Reich, erinnerte sich heute kaum noch jemand. Bis heute leugnen nicht bloß Ankara und Baku, dass er geschehen ist. Und wem ist eigentlich bewusst, dass das Deutsche Kaiserreich zu der Zeit ein enger Verbündeter des Osmanischen Reiches war? Mit den Konsequenzen, die aus diesem historischen Trauma resultieren, sind Armenier:innen bis heute auf sich alleine gestellt. 

Bisher reichten die Reaktionen der internationalen Politik auf den aktuellen Überfall nur für symbolischen Erklärungen. Derzeit läuft die Situation in Bergkarabach Gefahr, in Vergessenheit zu geraten. Dabei ist eine Unterstützung der Menschen und ein klares Bekenntnis zum Schutz ihrer Menschenrechte dringend geboten. Mit einer hochgerüsteten Armee und der Türkei als „Bruderstaat“ im Rücken, sowie einer reichen Erdöl- und Gasindustrie steht Aserbaidschan als politisches und ökonomisches Schwergewicht in einer deutlichen Machtasymmetrie zu dem geographisch kleinen Armenien, das nun nicht einmal auf politischen Allianzen setzen kann. Greift insbesondere die europäische Politik, die tief in Rohstoffgeschäfte mit Aserbaidschan verbunden ist, nicht ein, droht auch Armenien ein baldiger Angriff. 

Präsident Alijew erklärte kürzlich öffentlich, dass Armenien nur de jure ein Staat sei, nicht de facto und fügte hinzu, dass er sich das Recht vorbehalte, die Grenzen zum Nachbarstaat Armenien zu ändern. So schnell kann Alijew die Bedeutung territorialer Integrität dann selbst verraten, wenn es ihm in seine Agenda passt. Doch obgleich er sich ähnliche Aussagen auch schon in der Vergangenheit erlaubt hat, mangelte es an Sanktionen durch die internationale Politik. Stattdessen hat vor allem die Europäische Union die ökonomischen Verflechtungen mit und damit Abhängigkeiten von Aserbaidschan durch Rohstoffdeals vertieft. Hat unsere europäische Politik denn aus den Ankündigungen des Angriffskrieges auf die Ukraine von Wladimir Putin keine Lehren gezogen? Nicht verstanden, dass Gewaltandrohungen von Autokraten ernst genommen werden müssen? Welche Präzedenzfälle werden gerade in Bergkarabach geschaffen? Offen bleibt außerdem die Frage, wohin sich die internationale Politik bewegt, wenn das Völkerrecht, ein System das aus Kämpfen gegen Unterdrückung sowie zur Einhegung politischer Willkür und Ausbeutung entstand, von einem Diktator konsequenzenlos zur Machtausweitung genutzt wird. 

Es ist wohl nicht nur die Staatszentriertheit, welche dem Völkerrecht inhärent ist und territoriale Ansprüche über menschliche Bedürfnisse stellt. Es ist die daraus resultierende starre Definition von Stabilität und Ordnung, die sich in den internationalen Beziehungen beobachten lässt. Aber solange Politik sich ausschließlich an nationalstaatlichen Grenzen orientiert und nur Regierende innerhalb jener Grenzen inkludiert, bleibt sie anfällig für Machtmissbrauch. Denn dieser Ansatz hinterfragt die gewaltsame Entstehung bestehender Realitäten nicht und subsumiert menschliche Sicherheit - wie in diesem Falle - unter die Regierungsgewalt willkürlich definierter Grenzen.

Inwieweit dieses verzerrte Verständnis von Sicherheit auch durch eine ungefilterte Berichterstattung in die Öffentlichkeit transportiert wird, bleibt offen. Die Auseinandersetzung mit dem anhaltenden Konflikt in Bergkarabach ist aber unvollständig, wenn sie das Desinteresse an der Thematik als relevanten Faktor nicht mit einbezieht. Denn trotz eines brutalen Krieges in der Region vor knapp drei Jahren und wiederkehrenden Eskalationen blieb ein greifbares Bemühen um eine nachhaltige Konfliktresolution aus. Eine differenzierte Berichterstattung, die sich nicht in falscher Ausgewogenheit verliert, war nur schwer zu finden. Die vielen Warnungen von Expert:innen vor dem, was nun geschehen ist, wurden ignoriert.

Lässt die internationale Gemeinschaft aber nun zu, dass politische Gewalt neue Realitäten schaffen kann, gibt sie nicht bloß ihre Glaubwürdigkeit im Bezug auf die Achtung internationalen Rechts her. Vielmehr resultiert eine paradoxe Außenpolitik früher oder später auch im Vertrauensverlust nach innen und bietet damit einen weiteren Nährboden für populistische Bewegungen. Angesichts des Erstarkens des Rechtspopulismus gefährdet daher die Europäische Union mit jedem Tag des Untätigbleibens auch die Sicherheit und Stabilität Europas selbst. 

Artikel geschrieben von:
Raze Baziani
Autor:in
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