22. November 2022 | |
---|---|
Thema: | Menschenrechte |
Von: | Raze Baziani |
Beiträge über die defizitäre Lage der Menschenrechte in Katar häuften sich in den letzten Wochen derart, dass eine:r glauben könnte, um die Moral stünde es dieser Tage besonders gut. Aber wie konnten wir, die internationale Gemeinschaft, es so weit kommen lassen? Wieso haben wir nicht schon die rote Karte gezogen, als vielleicht noch etwas zu verhindern war? Jetzt, wo die glänzenden Stadien in der Wüste stehen, für deren Bau viele Menschen mit dem Leben bezahlen mussten, jetzt, wo die Ressourcen verbraucht sind, deren Verlust uns unsere Natur nicht mehr verzeiht, ist wohl der beste Zeitpunkt, um darüber nachzudenken was uns kommerzieller Fußball noch bedeutet.
Im Sport gewinnt der Stärkere - wohlhabende Länder
Die Vorstellung von der WM als Raum des redlichen, internationalen Zusammenspiels fördert das Verlangen der Mannschaften und Fans nach Teilhabe, Zugehörigkeit, Anerkennung. Wir sehnen uns nach einer Welt, in der gleiche Spielregeln und Chancen für alle gelten und glauben sie auf dem Spielfeld wiederzufinden. Doch übersehen wir dabei, wie wir durch genau jene Idee real bestehende Exklusion durch profitorientierte Wettkämpfe zu kompensieren versuchen. Im Sport gewinnt der oder die Stärkere. Darüber hinaus spielen jedoch vor allem global ungleich verteilte Ressourcen und Macht gerade im Sport eine nicht wegzudenkende Rolle. Weil wohlhabende Länder und Spitzenvereine für Talente und Ausbildung absurd überhöhte Summen ausgeben können, gewinnen sie eher. Diese asymmetrische Startbedingungen tragen zu einem verfehlten Urteil über Leistung und Prestige bei.
Dabei leistet sich die Fußballelite selbst nicht gerade wenige Skandale. Bei den jüngsten Präsidentschaftswahlen in Brasilien unterstützte Fußballstar Neymar offen den Rechtspopulisten Jair Bolsonaro. Der Ex-Präsident verherrlichte seiner Zeit offenkundig Folter und die brasilianische Militärdiktatur. Wenige Tage vor der Präsidentschaftswahl äußerte Neymar unverblümt auf Social Media, er würde ähnliche Werte wie Bolsonaro vertreten. Welche das genau sein sollten, ließ er jedoch offen. Zum Weltfußballer und mit dem Ballon d’Or, dem Oscar der Fußballwelt, wurde Karim Benzema dieses Jahr gekürt. Dabei war er noch bis vergangenes Jahr für fünfeinhalb Jahre aus der französischen Nationalmannschaft ausgeschlossen worden, nachdem er wegen Beihilfe zu versuchter Erpressung zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt worden war. Nicht die erste Begegnung des Fußballstars mit der Justiz und nicht die einzigen Fußballhelden, die sich regelmäßig moralische Fouls leisten. Wem jubeln wir da eigentlich zu, wen sehen unsere Kinder als sportliche Vorbilder? Ist Leistung wirklich so ehrenwert, dass wir alles andere ausblenden? Fußball, das sagen Fußball-Fans gerne, ist so viel mehr als nur Toreschießen, aber dann sollten es folgerichtig auch mehr sein als nur die Tore, die zählen.
Die glanzlosen Seiten des Sports sind uns lästig. 22 Männern zuzusehen, wie sie einem Ball hinterher laufen macht zu viel Spaß. Gewinne geben der Gemeinschaft ein gutes Gefühl. Befeuern Nationalsportarten immer auch mindestens patriotische Gefühle, so gehen sie nicht selten mit dem Irrglauben an verdienter Überlegenheit einher. Für historisch benachteiligte, vor allem kolonialisierte Länder bedeuten Sportgewinne dementsprechend eine Chance, sich zumindest für einen kurzen Moment aus dem kulturellen Abseits herauszudribbeln. Der Traum vom Erfolg im Fußball bedeutet für viele von Rassismus und Armut betroffene Menschen Aufstieg. Doch im Spiel gewinnt unter dem Schein des fair play nur ein exklusiver Kreis an Ländern. In den bisher 21 Weltmeisterschaften belegten die immer gleichen acht Länder aus Europa und Südamerika den ersten Platz. Im Falle des Eröffnungsspiels Katar gegen Ecuador gibt es bereits Bestechungs-Vorwürfe. Aufstieg können sich eben nur wenige leisten. Es ist ein Traum, der sich nur für die wenigsten erfüllt.
Ein rassistisches Zweiklassensystem
Zumindest auf dem Weg zum erhofften kulturellen Aufstieg leistet sich Katar aber ganz alleine viele Eigentore. Denn die herrschende Elite ist für ihr rassistisches Zweiklassensystem selbst verantwortlich und könnte es sich notabene ganz anders leisten. Stattdessen finanziert sie internationale islamistische Gruppierungen und unterhält obskure Allianzen mit autokratischen Regimen wie denen der Türkei oder Iran. Katar ist nachweislich involviert in die Destabilisierung der Lebensgrundlagen vieler Menschen in der SWANA Region. Die legitime Kritik an diesen Missständen versucht die Regierung mithilfe von Fifa Chef Gianni Infantino mit dem Vorwurf des des antimuslimischen Rassismus abzuwehren. Haben sie etwa vergessen, dass die Gastarbeitenden, die alles andere als fair behandelt werden, ebenfalls zu einem großen Teil muslimischen Glaubens sind? Immerhin erklärte Infantino sich zum verständnisvollen Experten für Diskriminierung, weil er als Kind selbst „wegen seinen roten Haaren diskriminiert“ worden sei.
Es ist wahr, dass vielen Kritik nicht gelingt ohne Katar als Projektionsfläche für rassistische Narrative zu benutzen. Und doch gehört das Land nicht zu einer homogenen Solidargemeinschaft der Unterdrückten der Geschichte. Das zu behaupten ist an sich diskriminierend und macht Mehrfachunterdrückung von Minderheiten und marginalisierten Gruppen unsichtbar. Wir dürfen nicht zulassen, dass sich Katar seiner Verantwortung für den Profit aus ausbeuterischen Strukturen entzieht. Rassismus ist eine Konstante in der Menschheitsgeschichte und herrscht auch in muslimischen Gesellschaften. An der langen Tradition der Sklaverei dieser Welt leiden schließlich marginalisierte, vor allem indigene Gruppen bis heute noch.
Doch, um uns nicht in ablenkenden Whataboutismus-Fallen zu verlieren, sondern die Allgegenwärtigkeit von Ausbeutung und Diskriminierung zu betonen, hilft es vielleicht, Kritik an der katarischen Elite da zu üben, wo sie eben berechtigt ist. Empörungswellen über Alkoholverbote in den Stadien gehören nicht dazu. Was aber zu einer reflektierten Kritik dazu gehört ist, anzuerkennen, dass unsere Institutionen und Verantwortlichen käuflich sind. Gier kennt nunmal keine Herkunft. Tatsächlich ist es Katars Elite, die uns vorführt, was es bedeutet kompromisslos Werte durchzusetzen. In diesem Falle ist es schmerzlicherweise ein verachtendes Verständnis von Liebe, sozialer Identität und menschlichem Wert. Der katarische WM-Botschafter nannte Homosexualität einen „geistigen Schaden“. Nun hat die Fifa mit dem Androhen von Sanktionen sogar durchgesetzt, dass die deutsche Nationalmannschaft und sechs weitere Länder ohne ihre „One Love“-Kapitänsbinde am Arm aufs Spielfeld gehen, die genau dagegen ein Zeichen setzten sollte. Während iranische Spieler ihr Leben riskieren, indem sie aus Protest gegen das gewalttätige Regime in ihrer Heimat die Hymne nicht mitsingen, verzichten sämtliche europäische Mannschaften auf das kleinste Symbol der Solidarität - weil sie Punkte im Spiel verlieren könnten.